Ansprache von Jerry Kay, dem Enkel von Karl Kutschera, anlässlich der Anbringung einer Gedenktafel am Kurfürstendamm 26 am 22. Februar 2018 .
Das Haus Wien war das Lebenswerk meines Großvaters Karl Kutschera, dort arbeitete er von 1919 bis zu seinem Tod 1950. Mein Vater Günther Kutschera war dessen Geschäftsführer, bis er 1938 nach Amerika emigrierte. Meine Stiefgroßmutter Josephine Kutschera Hildebrandt führte das Haus Wien bis Anfang der 1970er Jahre weiter. Ich war zum ersten Mal 1949 dort, als ich drei Jahre alt war.
Wer war Karl Kutschera?
Er wuchs in der kleinen Stadt Stvrtok im nördlichen Teil des Königreichs Ungarn (damals Oberungarn, jetzt Slowakei) auf. Seine Eltern hatten eine Gaststätte und einen Bauernhof. Als junger Mann liebte Karl die Atmosphäre in diesem Ort, wo sich Menschen aus der Stadt und Besucher zum Essen und Trinken trafen. Er beobachtete die Magie des Zusammenseins, die die Menschen glücklich und ausgelassen machte, sie manchmal sogar zur Kreativität inspirierte.
Als Karl Kutschera 13 Jahre alt war, ging er nach Wien, in die Hochburg der Kaffeehaus-Kultur. Er arbeitete in Cafés, wo Schriftsteller, Komponisten, Künstler und Intellektuelle mit ihrem Kaffee saßen und Bücher, Theaterstücke, Zeitungskolumnen oder Essays schrieben; sie komponierten Musik, entwarfen Bilder oder Ideen für moderne Gebäude oder entwickelten neue Erfindungen und wissenschaftliche Konzepte. Wenn sie sich an ihrem Stammtisch trafen, machten sie nicht nur Späße, sondern diskutierten und debattierten oder arbeiteten zusammen. Mein Großvater erkannte, dass diese Kaffeehäuser eine vitale europäische Institution und ein öffentlicher Platz auch zur Ermutigung und für den Zivilisationsfortschritt waren.
Als er um 1900 nach Berlin kam, wollte Karl Kutschera eine Art von Café eröffnen, wie es schon anderen berühmte gab: das Romanische Café, das Café des Westens… – einen Platz in der Mitte der Stadt, wo Intellektuelle und Talente in Ruhe abseits des Lärms der Metropole zusammenkommen, um ihren Ideen für neue Kunst, Literatur, Musik und Mode Raum geben zu können. Und dann, wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, erblühten die „Goldenen Zwanziger Jahre“ – alle wollten nach Berlin und Berlin wurde eine Weltstadt! Ja, und die Künstler, Journalisten, Kabarettisten, Theater- und Filmproduzenten, Direktoren, Schauspieler kamen ins Café Wien. Aber nicht nur die Großen und Reichen saßen dort an den großen Tischen. An einem Stammtisch im Hintergrund trafen sich auch junge Künstler und Autoren, von denen fünfzig, ausgewählt nach einem Losverfahren, an einem Tag ihrer Wahl auf Kosten des Hauses essen durften – eine Besonderheit, die ihnen Karl Kutschera zu seinen Lebzeiten als „Geschenk“ ermöglichte.
Im Billardraum in der oberen Etage traf sich ein junger Drehbuchautor mit seinem Direktor Robert Siodmak, um Szenen für seinen ersten berühmten Film „Menschen am Sonntag“ durchzusprechen, der 1929 in dem benachbarten Kino Premiere hatte. Josephine Baker und Max Reinhardt waren ebenfalls Gäste im Café Wien. Der Boxchampion Max Schmeling traf seine jüdischen Freunde häufig in dem im Keller unterhalb des Cafés existierenden Nachtclub „Zigeunerkeller“. Später half er ihnen bei ihrer Flucht in die Freiheit.
Auch Albert Einstein saß im Café Wien und unterhielt sich mit dem Schachweltmeister Emmanuel Lasker. Ein anderer Freund und Mitarbeiter Einsteins, Leo Szilard, der das erste Elektronenmikroskop entwickelt hat, versuchte 1928 im Café Wien den Erfinder und Vater der Holographie Dennis Gabor davon zu überzeugen, es zu bauen.
Unglücklicherweise war die deutsche Zivilisation nicht stark genug, um dem Nationalsozialismus zu widerstehen. Und Karl Kutschera und viele Angehörige seiner Familie, die Deutschland nicht verlassen hatten, verloren alles und wurden in Konzentrationslager deportiert. Seine zwei jüngsten Kinder, Klaus Gerhard und Karin Gertrud, sind im KZ Auschwitz umgekommen. Er selbst und seine Frau Josephine überlebten das KZ Theresienstadt und kehrten nach Berlin zurück.
Was sollte er tun? Berlin verlassen, das Café verkaufen und sich mit der Familie in einem anderen Land niederlassen? Nein, er wählte Berlin wieder als seinen Standort!
Karl Kutschera war davon überzeugt, dass es, obwohl er in Deutschland so schreckliche Zeiten erlebt hatte, noch einige zivilisierte Menschen gab, die Berlin wieder lebenswert machen und positiv gestalten wollten. Sein älterer Sohn, mein Vater, der rechtzeitig nach Amerika gegangen war, war damit nicht einverstanden. Aber Karl bestand darauf, in Berlin zu bleiben. Während der harten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hielt er durch und glaubte daran, dass das Café Wien wieder das Symbol werden könnte, das es für Berlin einmal gewesen war.
Als er 1950 starb, übernahm meine Stiefgroßmutter Josephine Kutschera das Haus Wien und führte es weiter, später zusammen mit Paul Hildebrandt, ihrem
zweiten Ehemann, der das Kino „Filmbühne Wien“ in den 1950er Jahren als Standort für die Internationalen Filmfestspiele Berlin (jetzt Berlinale) etablierte, was der Stadt wieder internationales Flair und kulturelles Ansehen brachte. Das ist der Grund, warum das Gebäude so wichtig ist: Karl Kutschera und andere Gastronomen hatten sich der Aufgabe gewidmet, Plätze wie das Café Wien zu einem bedeutsamen Treffpunkt zu machen, wo Menschen bei einer Tasse Kaffee und einem Stück Strudel sich dafür einsetzen, eine Gesellschaft besser und letztendlich angenehmer zu machen. Ich danke allen, die die Gedenktafel ermöglicht und damit dazu beitragen haben, dass die Bedeutung des Hauses Wien und die Geschichte meiner Familie in Erinnerung bleibt.
Jerry Kay lebt in Kalifornien. Die sinngemäße Übersetzung der Ansprache stammt von Dr. Cornelia Dildei, die dieses Gedenktafelprojekt maßgeblich koordiniert hat.
Veröffentlicht bei AKTIVES MUSEUM Im Rundbrief 79
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